Der Corona-Krisenstab existiert schon längst - in den Talkshows

Von Dietrich Leder (KNA)
MEDIENETHIK - "Was für eine Woche!" hat Anne Will in ihrer Sendung mit Blick auf den Regierungswechsel und die Entwicklung der Pandemie gesagt. Corona war - wieder einmal - das beherrschende Thema der TV-Talks. Angesichts der Lage wird die gesellschaftliche Debatte gereizter.


BONN (KNA) Ein permanenter Krisenstab im Kanzleramt soll demnächst die Maßnahmen in der Corona-Pandemie in Deutschland koordinieren. Die alte Bundesregierung hatte zu diesem Zweck noch auf eine Bund-Länder-Runde gesetzt, die unregelmäßig tagte. Betrachtet man rückblickend das Fernsehangebot vom 21. bis zum 29. November, dann hat man das Gefühl, dass der Krisenstab schon längst existiert. Er tagt seit Beginn der Pandemie in Form der diversen Fernseh-Talkshows.

Wie im geplanten Krisenstab haben in den Talkshows vor allem Vertreter von Politik und Wissenschaft das Sagen. Es handelt sich um einen Kreis von etwa vierzig Personen, die reihum die Gesprächsrunden bevölkern. Seltener sind dort Personen aus der medizinischen Praxis zu sehen. Noch seltener kommen jene zu Wort, die sich mit ethischen Grundsatzfragen oder mit sozialen Folgen der politischen Handlungen beschäftigen, mit denen die Pandemie eingehegt werden soll. Das ist umso bedauerlicher, weil die Gruppe aus der Wissenschaft (Virologie, Epidemiologie) und die aus der Politik (Regierungs- und Parteienvertreter) ohnehin in den täglichen Nachrichten- sowie den Sondersendungen regelmäßig befragt werden.

Angesichts der Häufung der Talkshows wiederholte sich vieles. Das war selbst den Beteiligten bewusst, die wie der Präsident des Robert Koch-Instituts Lothar Wieler davon sprachen, dass sie sich wegen der andauernden Wiederholungen ihrer Sätze wie ein Papagei vorkämen. Andere verwiesen auf den Spielfilm "Und täglich grüßt das Murmeltier", in dem ein Fernsehjournalist in einer Zeitschleife feststeckt und immer wieder dasselbe erlebt. Ähnlich erging es den Menschen vor dem Fernsehgerät. Sie hörten immer wieder dieselben steilen Metaphern ("Wellenbrecher", "Bundesnotbremse"), Anglizismen ("Boostern", "Lockdown") und bürokratischen Floskeln ("Infektionsgeschehen"). Und sie sahen dieselben gestischen und mimischen Signale, wie etwa der amtierende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) über seine Krawatte streicht, wenn er seine Emotionen zu bändigen sucht, wie der designierte Finanzminister Christian Lindner (FDP) stets das Kinn reckt, wenn er auf die juristischen Grundlagen seiner Pandemiepolitik zu sprechen kommt, oder wie der kommende Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) den Kopf leicht schief legt, wenn er Nachdenklichkeit demonstrieren möchte.

Trotz aller Wiederholungen erwies sich das Thema in diesen Tagen als überraschend vielgestaltig. Das hatte seine Gründe in einer gewissen Dynamik, die nicht nur dem pandemischen Geschehen eigen ist, sondern in dieser Zeit des Regierungswechsels auch der Politik. Während also die täglichen Kennzahlen der Pandemie (Erkrankungen, Belegung der Intensivstationen, Todesfälle) auf neue Höhen stiegen, mussten die Parteien, die bald die Bundesregierung bilden wollen, ihr Regierungsprogramm formulieren, während die Mitglieder von CDU/CSU sich in die neue Rolle als Opposition zu finden hatten. Das hatte ein absurdes Rollenspiel zur Folge: Die Vertreter der neuen Opposition kritisierten mehrfach die Mitglieder der Noch-Nicht-Regierung für eine gewisse Untätigkeit, während diese jene daran erinnerten, dass derzeit noch sie, also die künftige Opposition, das Heft des Handelns in der Hand halte. Während die Politik sich also noch in den jeweils neuen Rollen als Regierung und Opposition zurechtzufinden versuchte, verlangte die Pandemie - so sahen es die meisten Wissenschaftler - rasches und entschiedenes Handeln.

Dazu hatte am Mittwoch der Vorwoche Lothar Wieler, der in seinen Pressekonferenzen sonst betont sachlich spricht, in einer Videokonferenz mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) den dramatischen Ton vorgegeben, als er warnte: "Wir laufen momentan in eine ernste Notlage. Wir werden wirklich ein sehr schlimmes Weihnachtsfest haben, wenn wir jetzt nicht gegensteuern." Dieses Statement wurde in den Nachrichtensendungen mehrfach zitiert. Und Wielers dramatischer Ton stimmte die Debatten der Talkshows ein.

Personalien werden auch wegen des Talkshow-Formats überschätzt

Zusätzliche Dynamik brachten Personalfragen. In der CDU begann der Wahlkampf um den Parteivorsitz: Bei "Markus Lanz" (ZDF) saßen mit Friedrich Merz am Mittwoch und Helge Braun am Donnerstag zwei der drei Kandidaten um dieses Parteiamt, während der dritte Kandidat - Norbert Röttgen - ebenfalls am Donnerstag bei "Maybrit Illner" (ZDF) zu Gast war. In der SPD blieb derweil unklar, wer aus dieser Partei das Gesundheitsministerium leiten werde. Diese Frage spitzte vor allem Lanz in seiner Sendung am Donnerstag dergestalt zu, als sei für die Pandemiepolitik vor allem entscheidend, wer sie ministeriell zu bewältigen habe. Diese Überschätzung einer Personalie ist zum einen der Form der Talkshow selbst geschuldet, in der ja jedes Thema grundsätzlich personalisiert wird. Sie ist zum anderen das Spezifikum des Moderators, der sich mit einer gewissen Selbstbegeisterung den Widersprüchen von Politkern als Personen widmet. Ein Mittel, das er seit Jahren verwendet, ist die Konfrontation des jeweiligen Gastes mit Videos aus dem Archiv, die Aussagen festhalten, die im Widerspruch zu dessen gegenwärtigen Positionen stehen.

Dieses Mittel ist längst auch in anderen Talkshows angekommen. Gerade in der Corona-Politik, die durch ein ständiges Auf und Ab aus dramatischen Warnungen und hoffnungsvollen Verheißungen gekennzeichnet ist, lassen sich leicht Aussagen finden, die beispielsweise gestern noch genau jene Prognosen ignorierten, die sich heute als wahr erwiesen haben. Man kann diese Widersprüche - wie es in den Talkshows zumeist geschah - als Ignoranz der Politik der Wissenschaft gegenüber deuten, die solche Prognosen vorgelegt hatte. Man kann diese Widersprüche aber auch als eine Notwendigkeit der Politik begreifen, nicht nur Restriktionen verkünden, sondern auch Hoffnungen auf ein Leben ohne Corona verheißen zu wollen. Einen Wahlkampf gewinnt man weniger durch ausgewiesenes Krisenmanagement, als durch Versprechungen auf eine bessere Zukunft. Das stellt sich im Rückblick als fatal heraus. Die Politik hätte im Wahlkampf eine "Auszeit von der Pandemie" genommen, sagte der Arzt Manfred Wagner vom Klinikum Fürth bei "Sandra Maischberger" (ARD) am Dienstag.

Wer aber glaubt, dass die Wissenschaft ohne Widerspruch sei, liegt ebenfalls falsch. Bei Markus Lanz am Donnerstag gestand die Neurowissenschaftlerin Susanne Schreiber, die dem Deutschen Ethikrat angehört, dass man die gesteigerte Ansteckungsgefahr durch die Delta-Variante zunächst ebenso unterschätzt habe wie die Gefahr, dass Menschen, die zweimal geimpft sind, dennoch an Corona erkranken könnten. Bereits am Dienstag hatte die Virologin Ulrike Protzer bei Sandra Maischberger festgestellt, dass man die Notwendigkeit einer dritten Impfung zu spät erkannt habe.

Die Wissenschaftler wollten öffentlich jeden Zweifel an der Corona-Impfung vermeiden, die es gesellschaftlich durchzusetzen galt. Sie unterlagen damit demselben Erfolgsdruck, der im Wahlkampf zu all den Verheißungen einer normalen Weihnachtszeit geführt hatte. Ein Innehalten, in dem Wissenschaft wie Politik Selbstzweifel zulassen konnten, schien in der Terminhatz der Talkshows kaum möglich.

Es sei denn, man besann sich auf das, was aktuell in den Krankenhäusern geschieht. Frank Plasberg zeigte in "Hart aber fair" (ARD) am Montag einen kurzen Dokumentarfilm aus einer Corona-Isolierstation in Darmstadt, die sein Studiogast Cihan Celik leitet. Unter denen, die dort intensivmedizinisch behandelt wurden, waren einige jüngere Menschen, die sich nicht hatten impfen lassen. Einer von ihnen erklärte nun angesichts seiner Erkrankung, wie falsch das gewesen wäre. Heute würde er sich "jede Woche impfen lassen". Im kurzen Film war auch die enorme Anstrengung zu sehen, die auf dem medizinischen und dem Pflege-Personal lastet. Sie kennen kaum Ruhepausen, müssen permanent existenzielle Entscheidungen treffen und wissen, dass ein Ende nicht abzusehen ist, ja, dass es Tag für Tag schlimmer werden kann. Im Anschluss an den Film war es für den Moderator ein leichtes, von seinen Gästen die Zustimmung einer Impfpflicht einzuholen.

Zweifler sind aus Sendungen wieder verschwunden

Waren noch vor Wochen gelegentlich Menschen in Talkshows eingeladen, die wie die Politikerin Sarah Wagenknecht (Linke) am 31. Oktober bei "Anne Will" oder die Publizistin Svenja Flaßpöhler bei "Hart aber fair" am 15. November grundsätzliche Zweifel an der Art und Weise äußerten, wie gesellschaftlich auf die Pandemie reagiert werde, verschwanden solche Zweifler mit dem Anstieg der Erkrankungszahlen aus den Sendungen. Vielleicht deshalb lud Richard David Precht, der sich zwischenzeitlich im ZDF-Podcast "Lanz & Precht" als ein Skeptiker der Corona-Maßnahmen erwiesen hatte, in die nach ihm benannten Gesprächssendung (ZDF, 28. November) die erwähnte Philosophin Flaßpöhler ein. Titel der Sendung: "Sensibilisieren wir uns zu Tode?"

Ihr 45-minütiges Gespräch mäanderte durch die Zivilisationsgeschichte der Empfindungen, verrührte die Sozial- mit der Begriffsgeschichte und brach Komplexes gelegentlich auf billige Vergleiche herunter. Nebenbei wurde wacker generalisiert: Precht sagte, derzeit stigmatisiere die Öffentlichkeit abweichendes Verhalten, was wiederum zu einer besonderen Form der Selbstzensur führe. Das hätte man nun gerne genauer gewusst: Welches abweichende Verhalten wird derzeit von der Öffentlichkeit stigmatisiert? Wer übt wann welche Form von Selbstzensur aus? Um welche Öffentlichkeit geht es hier - die des Fernsehens oder die des Internets? Diese raunende Kritik trug Precht - etwa bei Julia Encke im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" vom 28. November - den Vorwurf einer Nähe zur "Querdenker"-Szene ein, die ja auch davon spricht, man dürfe die Wahrheit öffentlich nicht mehr sagen.

Dessen ungeachtet kann man eine gewisse Einengung der gesellschaftlichen Diskussion, was gesundheitspolitische Positionen angeht, nicht verleugnen: Beispielsweise gilt die Kritik an einer Schulmedizin, die Fragen der Psychosomatik außer Acht lässt, mittlerweile als obsolet. Ebenso die Kritik an einer Arzneimittelindustrie, die mitunter ihre eigenen Gewinninteressen über die Gesundheit derer stellt, die ihre Fabrikate kaufen. Vergessen auch, dass eine profitorientierte Politik im Gesundheitssystem zum Verlust von Betten auf Intensivstationen und zum Weggang von Pflegekräften führte.

Am 28. November bewies das Gespräch bei "Anne Will" im Ersten, dass die gesellschaftliche Debatte mittlerweile deutlich gereizter verläuft als noch vor Wochenfrist. Es wurde in der Sendung sehr laut, als beispielsweise die Journalistin Melanie Amann (Spiegel) der Politik vorwarf, dass sie nicht weit genug vorausdenke. Für die Verzögerung notwendiger Maßnahmen machte sie etwas verantwortlich, was sie als "FDP-Ideologie" bezeichnete, womit sie den FDP-Vorsitzenden Lindner in Rage brachte. Will war zuvor bereits der Satz entfahren: "Was für eine Woche!". Eine Woche, in der klar wurde, dass es wohl wieder Kontaktreduzierung braucht, um den Anstieg der Erkrankungen und die daraus folgende Überlastung der Intensivstationen zu verhindern. Eine Woche, in der unklar blieb, welche Maßnahmen diesem Zweck am besten dienen. Und welche sozialen, seelischen und wirtschaftlichen Folgen diese Kontaktreduzierung haben wird. Der Krisenstab der Talkshows wird weiter tagen. Entscheidungen entscheidet man. Darum kommt die Exekutive nicht herum.

Redaktioneller Hinweis zum KNA Mediendienst:
Dieser Text gehört zum Angebot des KNA Mediendienstes, der ab dem 1. Januar 2022 als wöchentlicher Newsletter erscheint und auf dem KNA-News-Portal aktuelle Themen aus der Medienbranche analysiert. Weitere Informationen zum Bezug und Mediendienst-Abonnement unter vertrieb@kna.de