Twitter zwischen Meinungsfreiheit und "gesundem Diskurs" - Das bedeutet der CEO-Wechsel für die Plattformregulierung

Von Felix Neumann
MEDIENENTWICKLUNG - Die Social-Media-Welt verliert mit Jack Dorsey einen der lautstärksten Fürsprecher für Meinungsfreiheit. Sein Nachfolger als Twitter-Chef, Parag Agrawal, steht in vielen Punkten für Kontinuität - doch bei der Plattformregulierung deutet sich eine Akzentverschiebung an.


San Francisco (KNA) Unter den großen Social-Media-Plattformen war Twitter schon immer der Scheinriese: Im Vergleich zu den etablierten Platzhirschen Facebook, Instagram und Youtube, die von Milliarden von Menschen genutzt werden, liegt der Kurznachrichtendienst weit abgeschlagen bei unter 500 Millionen aktiven Nutzern. Auch wenn es dem nun abgetretenen Chief Executive Officer Jack Dorsey, zumindest was die Erlöse anging, gelungen ist, das Ruder herumzureißen: bei der Reichweite bleibt der Dienst Nische.

Die Nische, die er besetzt, führt aber zu der überproportionalen Wahrnehmung - vor allem Politiker und Medienschaffende nutzen den Dienst, der zudem durch seine technische Gestaltung und den Fokus auf Text statt Multimedia viel einfacher nach Themen durchsucht werden kann, ohne dass komplizierte Privatsphäreeinstellungen der Recherche in die Quere kommen. Die überproportionale Wahrnehmung führt aber auch zu kritischer Beobachtung durch die Politik auf der Suche nach einer wirksamen Regulierung gegen Hassrede und Desinformation.

Twitter-Mitgründer Dorsey ragte unter den Chefs der großen Social-Media-Konzerne schon immer durch exzentrische Vorlieben hervor, schon durch sein Äußeres. Nicht Mark Zuckerbergs Uniform aus Hoodie und Jeans, sondern der wuchernde Vollbart und der Nasenring sind sein Markenzeichen; über seine Ernährungsgewohnheiten - mal vegan, mal die fleischlastige "Paleo"-Diät - redet er gerne, und in letzter Zeit prägten vor allem seine Begeisterung für Kryptowährungen die öffentlichen Äußerungen des Seriengründers, der neben Twitter auch den Zahlungsdienstleister Square führt.

Von den anderen Silicon-Valley-Größen unterscheidet ihn aber auch eine deutlichere Distanzierung von regulatorischen Begehrlichkeiten aus der Politik. Auch Twitter moderiert die eigene Plattform nach eigenen Regeln wie die anderen Plattformen. Die Entscheidung, den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump lange völlig ungehindert seinen Twitter-Account nutzen zu lassen, soll direkt von Dorseys Verständnis von Meinungsfreiheit ausgegangen sein; zugleich war es aber auch Twitter, das Trumps Account als erstes und dauerhaft sperrte nach dem Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar.

Dorsey verteidigt Haftungsprivileg

Von außen ist schwer zu entscheiden, was für das lange Gewährenlassen von Trump verantwortlich ist: Dorseys deutlicheres Eintreten für die Meinungsfreiheit, das sich auch bei seinen Anhörungen vor dem US-Kongress im Vergleich zu den Spitzen von Facebook und Google in seinen Antworten zeigte? Oder ist der Grund das oft beklagte Zögern und Zaudern von Twitter? Das bis vor Kurzem auch in der im Vergleich zu den anderen Plattformen äußerst langsamen Weiterentwicklung zu sehen war.

Dorsey scheint das derzeit politisch heftig umstrittene Haftungsprivileg im US-Telekommunikationsrecht von den Tech-Größen am vehementesten zu verteidigen. Die Regelung "section 230" nimmt Kommunikationsdienstleister von der Haftung für Drittanbieter-Inhalte aus und ermöglicht so erst das enorme Wachstum der Social-Media-Plattformen. Dorseys idealer Ansatz sieht keine zentrale Durchsetzung von Plattformregeln vor: Unter der Innovationsoffensive, die Dorsey wohl auch auf Drängen des aktivistischen Investors Elliott Management des Milliardärs Paul Singer, der 2020 bei Twitter eingestiegen war, ins Leben gerufen hat, ist auch "Project Bluesky". Singer hatte Twitter nach jahrelanger Stagnation eine Innovations- und Wachstumsoffensive verordnet. Direkt auf dieses Ziel einzuzahlen scheinen der Aufkauf des Newsletter-Dienstes Revue, der Clubhouse-Klon "Spaces", der das erfolgreiche Format von Audio-Diskussionsräumen in die Plattform integrierte, und die Einführung kostenpflichtiger Premium-Accounts.

Dorseys Herz schlägt aber für etwas anderes: Das schon vor Singers Einstieg angestoßene Projekt "Bluesky" soll ein dezentrales, verteiltes und damit zensurfesteres Social-Media-Protokoll entwickeln - auch die Blockchain-Technologie, für die sich Dorsey begeistert, soll dabei eine Rolle spielen. Mittelfristig soll nach Dorseys Willen auch Twitter von seinem bisherigen zentralistischen Modell auf die neue dezentrale Infrastruktur von "Bluesky" umsteigen. Dorsey bezog sich in seiner Präsentation des Projekts auf einen Artikel des Techjournalisten Mike Masnick, der für das Knight First Amendment Institute der Columbia University einen dezentralen Ansatz vorschlug, um den Problemen und der Machtansammlung großer Plattformen Herr zu werden: Eine Dezentralisierung könne freie Rede und Innovation befördern, ohne dass es ein zentrales Moderationsregime benötige.

Parag Agrawal als Neuer spricht für Kontinuität

Die Berufung von Dorseys Vertrautem Parag Agrawal, dem bisherigen Chief Technical Officer von Twitter, ist zunächst ein Zeichen für Kontinuität in dieser Strategie. Auch wenn Dorsey nicht so freiwillig gegangen sein sollte, wie es seine Abschiedsbotschaft insinuiert: Mit Agrawal konnte er einen Wunschnachfolger an der Spitze platzieren, der zudem bisher für "Bluesky" verantwortlich war und Dorseys Begeisterung für Bitcoin und Blockchain teilt. Mit Blick auf den Stellenwert einer unregulierten Meinungsfreiheit äußerte er sich aber auch bereits weniger kompromisslos als Dorsey.

In einem Interview mit der "MIT Technology Review" sagte Agrawal im vergangenen Jahr, dass Twitter nicht vom ersten Verfassungsgrundsatz gebunden werde, sondern einer "gesunden öffentlichen Diskussion" zu dienen habe. "Wir fokussieren uns weniger auf freie Rede, sondern darauf, wie die Zeiten sich verändert haben", erläuterte der damalige Technikchef. Eines dieser Zeichen der Zeit sei, dass Meinungsäußerung im Internet einfach sei: "Die meisten Leute können sprechen." Die Rolle Twitters liege darin, die algorithmischen Entscheidungsmechanismen zu entwerfen, die entscheiden, wer gehört werden kann, und zwar mit der Zielsetzung, einen "gesunden" öffentlichen Diskurs zu befördern.

Auch wenn Agrawal sich nicht zu politischen Regulierungsbemühungen äußerte: Dieser Fokus unterscheidet sich deutlich von Dorsey und könnte unter Agrawals Führung einen Kurswechsel hin zu einer deutlich aktiveren Rolle der Plattform in ihrer Selbstregulierung führen. Erste Anzeichen einer Kurskorrektur schon in der Endzeit von Dorseys Führung wurden jüngst vorgestellt: Twitter kündigte am Dienstag an, dass Nutzer stärker vor der Veröffentlichung von persönlichen Daten durch Dritte geschützt werden sollen. Nutzer erhalten weitgehende Rechte, unerwünschte Fotos oder private Informationen durch die Plattform entfernen zu lassen.

Selbst wenn sich die Äußerungen des alten und des neuen CEO unterscheiden: Auch Agrawal betonte im MIT-Interview, dass Twitter sich nicht zum Richter über richtig und falsch in politisch aufgeladenen Fragen aufspielen wolle: "Unser Ansatz ist nuancierter als lediglich zu löschen. Wir entwickeln eine Reihe von Maßnahmen, um zu entscheiden, ob bestimmte Inhalte ohne Kontext verbreitet werden sollten, oder ob es unsere Aufgabe ist, einen gewissen Kontext zu liefern, um Menschen mehr Informationen zu geben, um sich selbst zu informieren und zu entscheiden, was sie glauben wollen."

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