Mubi-Premiere "Cow" - erhellendes Seherlebnis der anderen Art

Von Manfred Riepe (KNA)
STREAMING - Mit ihrem ersten Dokumentarfilm über eine Milchkuh schlägt die britische Regisseurin Andrea Arnold einen ganz eigenen Weg ein. Die Langzeitbeobachtung bringt den Betrachter dazu, über sein Verhältnis zu Tieren nachzudenken - ganz ohne Einordnungen oder sentimentale Filmmusik
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Bonn (KNA) Eine gewöhnliche Kuh: In ihrer dokumentarischen Langzeitbeobachtung begleitet Andrea Arnold den Alltag eines Nutztieres mit der Kamera. Die große Nähe zu diesem Rind erzeugt beim Betrachter allmählich das irritierende Gefühl von Fremdheit.

Am Ende folgt dann genau das, was man die ganze Zeit über befürchtet hat. Denn die betagte, schwarz-weiße Kuh mit dem Namen Luma kann inzwischen kaum mehr laufen. Sie wird abseits in ein Gatter geführt. Sie erhält ein Gnadenbrot. Dann kommt der Bauer mit dem Bolzenschussgerät.

Das jähe Ende dieses Wiederkäuers berührt. Doch dieses erschütternde Gefühl entsteht nicht, weil man sich mit dieser Kuh angefreundet hätte. Sondern, im Gegenteil, aufgrund der unprätentiösen, nicht wertenden Beobachtung einer normalen Milchkuh, die der Film über die Jahreszeiten hinweg mit der Kamera begleitet. Und zwar von der Geburt eines Kälbchens in der Eingangsszene bis zum letzten Moment der Mutterkuh.

Mit diesem Film, gelingt Andrea Arnold eine Überraschung. Denn die Britin, die bereits für ihren Kurzfilm "Wasp" 2005 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, ist eigentlich für ihre fiktionalen Werke bekannt. Doch schon in "Fish Tank" aus dem Jahr 2009, einem Sozialdrama über eine labile Mutter, deren Liebhaber sich auch auf ihre Teenager-Tochter einlässt, beeindruckte Andrea Arnold mit einer bestechenden Genauigkeit der Milieuschilderung.

Diese Präzision des Hinschauens zeichnet auch ihren ersten dokumentarischen Film "Cow" aus, dessen deutsche Premiere auf Mubi stattfindet, einem Streaminganbieter mit einem kuratierten Angebot, bei dem der Schwerpunkt auf renommierten Arthouse-Regisseuren liegt. Unprätentiös und schnörkellos verfolgt die britische Regisseurin die Wege eines gewöhnlichen Nutztieres in einem Milchviehbetrieb. Gezeigt wird allerdings kein finsterer Kuhstall, in dem die Tiere dicht an dicht eingepfercht sind. Der Stall ist vergleichsweise hell, das Stroh sauber, und die Tiere haben Platz um sich herum. Offenbar handelt es sich um einen Vorzeigebetrieb, der - was nicht die Regel ist - kuhgebundene Kälberaufzucht praktiziert. Bei dieser Aufzucht verbringen Kuh und Kalb einige Zeit miteinander. Wäre dem nicht so, hätten sich Landwirte von einer Kamerafrau womöglich nicht so bereitwillig auf die Finger schauen lassen.

Das Gesehene einzuordnen ist nicht so einfach

Obwohl es um eine vergleichsweise heile Tierwelt geht, hat dieser Film es in sich. Es entsteht nämlich eine zuweilen recht irritierende Nähe zu dem beobachteten Tier. Werden die Kühe im Frühling auf die Weide getrieben, dann kann man an ihren Sprüngen die Freude ablesen. Auch das satte grüne Gras, das die Kuh genüsslich frisst, glaubt man zu schmecken. Doch je länger der Film dauert, desto mehr spürt der Betrachter, wie er versucht, das Gesehene einzuordnen. Das ist nicht so einfach.

Durch die neutrale Form Beobachtung, die sich jeglicher Wertung enthält, unterscheidet "Cow" sich von jenen konventionellen Naturfilmen, die - und das sollte man nicht vergessen - im Kino- und Medienbetrieb ein populäres und lukratives Subgenre bilden. Schon immer neigten dokumentarische Ausflüge in die Welt der Fauna dazu, das Objekt ihrer Betrachtung zu verniedlichen und zu vermenschlichen. Bereits Walt Disneys Naturfilme aus der berühmten Reihe True-Life Adventures, etwa "Die Robbeninsel" von 1948, erschienen wie sentimentale Trickfilme - nur eben mit lebenden Tieren. Und nicht zufällig wurde die Netflix-Produktion "Mein Lehrer, der Krake", die mit faszinierenden Bildern zeigt, wie ein Filmproduzent, der unter einem Burn-out leidet, eine heilsame Beziehung zu einem achtarmigen Tier anknüpft, 2021 mit dem Oscar in der Kategorie "Bester Dokumentarfilm" ausgezeichnet.

Dieser anthropomorphe Blick auf das Tier geht oft mit einer moralisierenden Botschaft einher. Beispielhaft hierfür ist die kürzlich vom Streaminganbieter Joyn+ veröffentlichte Dokureihe "Animals Army", die mit grausamen Innenansichten aus der Massentierhaltung schockiert. Doch von diesen beiden Ansätzen, die Tiere entweder vermenschlichen oder mit Ekelbildern für umweltverträgliche Landwirtschaft plädieren, hebt Andrea Arnolds Film sich deutlich ab.

Zwar folgt auch ihre Kamera dem Alltag dieser Kuh bis ins kleinste Detail. Doch dabei verzichtet der im Direct-Cinema-Stil realisierte Film auf Kommentare, Informationen und Einordnungen jeglicher Art. Es fehlt auch die übliche sentimentale Filmmusik. Während aus den Deckenlautsprechern halblaute Britpop-Klänge durch den Stall säuseln, verrichten in "Cow" anonym bleibende Bäuerinnen und Veterinäre routiniert ihre Arbeit. Keiner der Landwirte tritt vor die Kamera, um seine Arbeit zu erläutern oder um zu erklären, wie es dem Tier geht.

Regisseurin: "Sehen, um das Tier zu sehen"

"Ich wollte", so die Regisseurin über ihren Film, "in keiner Weise versuchen, in den Kopf des Tiers einzudringen oder menschliche Gefühle zu suggerieren. Ich wollte nur seine Reaktionen auf seine tägliche Realität beobachten. In all seiner Schönheit, seinen Anforderungen und seiner Rohheit. Hinschauen. Sehen. Um es zu sehen."

Deshalb ist der Zuschauer in diesem Film immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Man betrachtet etwa, dass die Pflege dieser Wiederkäuer den Einsatz technischer Gerätschaften erfordert, von der Melkmaschine bis hin zu einer Vorrichtung, die das 800 Kilogramm schwere Tier hochhebt und zur Seite kippt, so dass der Bauer die Hufe der Kuh schneiden kann, ohne sich bücken zu müssen. Wir sehen das gewaltige, prall gefüllte Euter des Tieres, das auf ein hochgezüchtetes Milchkraftwerk hindeutet. Es tritt aber kein Tierschützer vor die Kamera, der diese Beobachtung beispielsweise in "Das System Milch" einordnen würde - so der Titel von Andreas Pichlers Dokumentarfilm von 2017, der von Bauern kritisiert wurde, weil er ein unausgewogenes Bild der Milchwirtschaft zeichnet.

Andrea Arnolds Film schlägt einen anderen Weg ein. Vor ihrer Kamera bleibt das Tier ein Tier. Nichts weiter. Die Kuh wird nicht zum Faustpfand einer Argumentation und auch nicht zu einem Protagonisten. Im Gegenteil. Wir schauen diesem Rindvieh immer wieder tief in die Augen. Doch sein Blick zurück bleibt fremdartig. So banal und alltäglich diese Kuh auch sein mag: Wir sind in diesem Film mit der nicht leicht fassbaren Erkenntnis konfrontiert, dass dieses Tier in gewisser Weise ein fremdes Wesen, ein Alien bleibt. Damit wird der Betrachter indirekt dazu genötigt, seine eigene Rolle zu reflektieren, die er als Mensch gegenüber einem Tier einnimmt. Einem Lebewesen, das seit vielen tausend Jahren als Nutztier fungiert. Und damit entwickelt der Film auch eine religiöse Dimension.

Allerdings werden solche Gedanken nicht vorbuchstabiert. Andrea Arnolds Film ist eben kein betreutes Betrachten. Fast könnte man sagen, dieser Film geht auf keine Kuhhaut. Und das macht diese 90 Minuten zu einem ebenso spannenden wie erhellenden Seherlebnis der anderen Art.

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