Medienethiker: "Die wichtigsten Schlagzeilen kamen von der Kirche"

Von Rainer Nolte und Ludwig Ring-Eifel (KNA)
MEDIENRADAR - Was hat die Titelseiten geprägt? Welches Thema hätte mehr Sendeminuten verdient gehabt? Medienethiker Alexander Filipovic blickt im Medienradar auf die vergangenen Wochen zurück. Glasklar für ihn: Die Berichterstattung rund um die katholische Kirche und das Missbrauchsgutachten in München bekam die Aufmerksamkeit, die sie verdiente. Im Gespräch mit dem KNA Mediendienst analysiert Filipovic auch, welche Themen besser auf und unter dem Radar geblieben wären.

Bonn/Wien (KNA) Das mediale Radar hat in den vergangenen Wochen gerade bei Kirchenthemen ausgeschlagen. Die Vorstellung des Missbrauchsgutachtens in München und die folgenden Stellungnahmen von Kardinal Reinhard Marx und dem emeritierten Papst Benedikt XVI. wurden breit diskutiert. Am Sonntag wurde zunächst im ARD-"Presseclub" ein Resümee gezogen und eine Art letztes Debatten-Gefecht gab es dann bei "Anne Will" mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, der vier weiteren Talkgästen gegenüber saß.

KNA Mediendienst (MD): Herr Professor Filipovic , wie haben Sie das Setting gesehen?

Alexander Filipovic: Mir ist bei dieser Inszenierung aufgefallen, dass die Journalisten die wesentlichen aktiven Akteure in der Diskussion sind. Es herrscht von kirchlich-institutioneller Seite eine kommunikative Defensivität, die in jedem Fall interessant ist, die ich mir aber nicht ganz erklären kann. Aber wahrscheinlich ist das auch in der Reputation und der Eleganz von Deutschlandfunk-Moderatorin Christiane Florin und Georg Löwisch, dem Chefredakteur der "Zeit"-Beilage "Christ & Welt", begründet. Beide sind seriöse und hervorragende Journalisten, die gut formulieren, wie man beim "Presseclub" oder in der Sendung von Anne Will beobachten konnte. Sie treiben die Runden ganz schön an.

Man muss auch sehen, dass die Vertreter der Kirchen-Seite keine Medienfiguren sind. Wobei Bischof Bätzing ja recht eloquent ist. Nichtsdestoweniger sind das generell keine Medienprofis, von daher und von der Sachlage her ist in diesen Settings auch nicht viel zu gewinnen. Dass die Figuren der Kirche, die Amtsträger, in einer extremen Defensive sind, ist klar ersichtlich und kann meines Erachtens auch so abgebildet werden. Bischof Bätzing weiß ja auch, wie solche Formate laufen und kann das aushalten. Ich fand es gut, dass er teilgenommen und sich der Situation allein schon durch Anwesenheit gestellt hat.

MD: Interessant ist ja, dass in beiden Runden der Ruf nach dem Staat und der Politik kam, aber niemand nachfasst, wie das konkret aussehen soll. Schließlich ist die Staatsanwaltschaft aufgrund der Verjährung der Taten nicht zuständig. Das Parlament ist nicht zuständig, weil es sich um keine Gesetzesentscheidung handelt. Also wer ist zuständig? Wird diese Frage zu selten gestellt?

Filipovic: Ja, das ist mir auch aufgefallen, vor allem in den Formulierungen von Christiane Florin. In der Tat ist diese Forderung etwas unklar hinsichtlich der konkreten Schritte. Es ist sicher eine Reaktion auf den mangelnden Aufklärungserfolg der Kirche. Insofern ist diese Forderung nach externer Unterstützung oder Kontrolle prinzipiell nachvollziehbar, weil, wie Ex-Generalvikar Peter Beer in der "Zeit" formuliert hat, "diese Kirche" sich ganz offenbar "nicht selbst aufklären" kann. Kirche als eine Organisation in der Gesellschaft hat fraglos gleiche rechtliche Bedingungen bei Missbrauch in ihren Reihen wie ein Sportverband oder eine Schule, egal ob und wie sie das intern anders behandelt.

Was also in diesen medialen Debatten jenseits des Reflexes, dass der Staat eingreifen muss, deutlich wird, ist eine Veränderung im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft: Die Öffentlichkeit reagiert mehr und mehr allergisch auf auch nur den Anschein von Sonderbehandlung. Angesichts des dokumentierten verfehlten echten Aufklärungswillens in Sachen Missbrauch mit allem Recht, für mein Empfinden.

MD: In eine interessante, kommunikative Situation manövrierte sich in der Gutachten-Debatte der ehemalige Papst Benedikt XVI. und frühere Münchner Kardinal Joseph Ratzinger. Zunächst soll er nach eigener Darstellung bei einer Sitzung nicht dabei gewesen sein, doch dann gab er via Privatsekretär Erzbischof Georg Gänswein bekannt, es sei ein redaktioneller Fehler und er sei doch dabei gewesen. Was dann bei der "Bild"-Zeitung zur Schlagzeile "Du sollst nicht lügen!" und zum Ausruf "Wir sind nicht mehr Papst" führte. Wie haben Sie diesen Vorgang wahrgenommen?

Filipovic: Es ist vornehmlich auf der Metaebene interessant, wie und auf welche Weise Benedikt auf 82 Seiten ein hölzernes juristisches Gegengutachten produziert, das der Schwere der Vorkommnisse nicht angemessen ist. Kommunikativ ist das natürlich eine Katastrophe, nicht nur den Opfern gegenüber. Zur Frage der Lüge und der Differenzierung zwischen "nicht wissen", "nicht genau wissen", "nichts sagen": In jedem Fall ist ein solches Rumlavieren angesichts dessen, was das Münchner Gutachten enthüllt hat, mehr als unpassend. Dahin gestellt bleibt, ob der ehemalige Papst überhaupt noch geistig kräftig genug ist, das alles zu umreißen. Ob er sich aktuell wirklich noch erinnern und noch strategisch agieren kann? Wer weiß.

Jedenfalls wäre es besser gewesen, klar den Opfern die eigene Verfehlung zu offenbaren und sich ohne herumzulavieren zu entschuldigen. Die zentrale Schlagzeile, dass das Gutachten den ehemaligen Papst und Kardinal Marx schwer belastet, ist da und sachlich begründet. Das verändert sehr viel - vielleicht mehr als wir jetzt überhaupt vermuten können.

MD: Viel kommentiert wurde ebenfalls die Performance von Kardinal Marx bei der zweiten Pressekonferenz zum Gutachten. Nicht nur, dass er trotz Einladung an der ersten Pressekonferenz nicht teilgenommen hatte, sondern bei der zweiten Veranstaltung eher herumlaviert hat. Andere wiederum sagen, er war authentisch. Welchen Eindruck haben Sie von dem Auftritt?

Filipovic: Ich kann mir keinen rechten Reim darauf machen. Seine Nichtteilnahme an der ersten Pressekonferenz halte ich für einen kommunikativen Fehler. Bei seinen folgenden Aussagen spielt es eine Rolle, dass er seinen Rücktritt bereits angeboten und Papst Franziskus ihn nicht angenommen hatte. Da kommt er medial schlecht heraus. Was Marx damals in Begleitung zu seinem Rücktrittsgesuch gesagt hat, fand ich übrigens sehr authentisch. Ganz anders jetzt. Nachvollziehbar ist der Vorwurf an ihn, nach einer Woche intensiven Studiums des Gutachtens habe er zu wenig Konkretes geäußert. Auf diesen Vorwurf hätte er vorbereitet gewesen sein müssen.

MD: Auffällig war, dass Kardinal Marx anders als sonst sein Statement Wort für Wort vom Blatt ablas - ein Indikator für Unsicherheit?

Filipovic: Verständlich angesichts der neuen Informationen aus dem Missbrauchsgutachten.

MD: Wie haben Sie die Pressekonferenz zur Gutachten-Veröffentlichung der Anwälte empfunden?

Filipovic: Tatsächlich hatte es etwas von Eventfernsehen, war unterm Strich aber seriös und angemessen. Das lag vor allem am Habitus der Anwälte und der Anwältin. Die frappierenden Zahlen und die Ernsthaftigkeit, mit der die Anwälte an die Sache herangegangen sind, gingen einem nahe. Die Erläuterungen gingen unter die Haut.

MD: Die große mediale Präsenz für das Thema scheint Ihrem Eindruck nach also gerechtfertigt. Oder wurden dadurch wichtige Themen vom Radar verdrängt?

Filipovic: Die wichtigsten Schlagzeilen kamen zu Recht rund um den Kirchenskandal und das Missbrauchsgutachten. Aber auch auf den Konflikt zwischen Ukraine und Russland sowie die daraus resultierende Bedrohung für den Frieden in Europa und der Welt kann man nicht oft genug hinweisen und das fand ja auch statt. Für mich eindrücklich waren zudem die Äußerungen von Sportdirektor Max Eberl zu seinem Rücktritt beim Fußball-Bundesligisten Borussia Mönchengladbach. Er kritisierte den Umgang der Medien mit ihm, kritisiert das Verhalten der Menschen in den Social Media. Es ist gut, dass damit ein Blick hinter die Kulissen des Fußballs ermöglicht wird, wie hoch der Druck dort ist, und dass es anscheinend weniger um die Sportart als ums Geschäftemachen geht.

MD: Welche Berichterstattung gehört dagegen für Sie in den Schredder?

Filipovic: Insbesondere die Schlagzeile "Rassismus im Dschungel". Beim Dschungel-Camp und den rassistischen Äußerungen einer Teilnehmerin und ihrem Rauswurf sprechen wir doch von kalkulierten Skandalen. Es geht nicht darum zu gewinnen, sondern möglichst bekannt zu werden. RTL kommt in zweifacher Hinsicht gut weg: Auf der einen Seite ist es ein Skandal, der Zuschauer und Aufmerksamkeit verspricht. Auf der anderen Seite kann der Sender zeigen, wie anständig er sich verhält. Das ist alles wohlfeil.

Auch verzichtbar fand ich den "Spiegel"-Titel "Kostenfalle Klimaschutz" sowie den Artikel der "Neuen Zürcher Zeitung" über "Klimatismus" als neue Religion. Vielen Ökonomen ist ja klar, dass zu wenig Klimaschutz heute dann zu ungeheuren Kosten in naher Zukunft führen würde. Und der Ideologievorwurf führt überhaupt nicht weiter. Überpräsent war die Causa um den Tennisstar Novak Djokovic. Auch die Polemik um die Lieferung von 5.000 Helmen durch Verteidigungsministerin Christine Lambrecht an die Ukraine fand ich unangenehm - wie Deutschland sich in dieser Krise verhält, muss thematisiert und kritisch beobachtet werden, aber solche Polemik spaltet und verhindert konstruktive Debatte.

MD: Und wofür hätten die Medien eher mehr Platz einräumen sollen?

Filipovic: Zu wenig Aufmerksamkeit hat die Holocaust-Gedenkfeier im Bundestag erhalten. Den emotionalen Auftritten des Knesset-Präsidenten Mickey Levy und der Holocaust-Überlebenden Inge Auerbacher wurde zu wenig Achtung zuteil. Unterm Radar meint aber auch die Frage, was gerade viel debattiert wird und gesellschaftlich relevant ist, aber sich nicht in den Medien wiederfindet: Hier ist allem voran die von Corona beeinflusste missliche Lage der Familien, Kinder und in den Schulen zu nennen. Damit meine ich den Skandal des Hin- und Herspringens von Verantwortlichkeiten zwischen Gesundheitsämtern, Schulen, Lehrern, das Versagen der Kultusministerien.

Im "Medienradar" blicken Experten im Gespräch mit dem KNA Mediendienst auf wichtige und auf vernachlässigte Themen der jüngsten Berichterstattung. Dieses Mal analysiert das mediale Geschehen Alexander Filipovic , Professor der Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Zu seinen Schwerpunkten gehören Medienethik, Technikethik (Digitale Ethik), Politische Ethik und Philosophischer Pragmatismus.



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